Irreversibel

NACHWORT

Nachdem Wolfgang Herrndorf im Februar 2010 erfahren hatte, dass er nicht mehr lange leben würde, beschloss er, die ihm bleibende Zeit mit Arbeit zu füllen. Gemeint war damit das Schreiben von Romanen. Der Plan erwies sich als hilfreich: «Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite» (19.4.2010). Und er trug Früchte. Herrndorf entwickelte eine Produktivität, die man vorher an ihm nicht gekannt hatte. Binnen weniger Monate war «Tschick» vollendet, ein weiteres Jahr später der fast 500 Seiten umfassende Roman «Sand».
Diese Leistung ist nur zu einem kleinen Teil den im Blog beschriebenen manischen Phasen zu verdanken. In beiden Büchern steckten zum Zeitpunkt der Diagnose schon mehrere Jahre Arbeit. Herrndorfs Schreiben beschleunigte sich vor allem, weil er schnellere Entscheidungen traf, anstatt wie früher monatelang Varianten jedes Satzes durchzuprobieren.
Sein digitales Tagebuch war zunächst als reines Mitteilungsmedium für die Freunde gedacht. Im September 2010 veröffentlichte er es auf Drängen von Freunden und mit Hilfe von Sascha und Meike Lobo als Blog: unter dem Titel, den auch dieses Buch trägt. Zu diesem Zeitpunkt war das Journal noch eher Mittel als Zweck. Herrndorfs Aufmerksamkeit galt dem nächsten Roman, und nur in den Arbeitspausen war Platz für «Tee trinken, Stendhal lesen, bisschen Blog, abwaschen, Wäsche machen, staubsaugen» (so im Eintrag vom 8.10.2011).
Durch die Metamorphose vom Informationsmedium für den Freundeskreis zum Text für jeden, der ihn lesen wollte, wurde aus «Arbeit und Struktur» aber immer erkennbarer etwas anderes. Man kann es, wenn man mag, Literatur nennen. Das taten schon sehr bald Leser, die Wert auf diese Unterscheidung legen, und Herrndorf selbst sah es irgendwann auch so. Zunächst in dem Sinne, das Blog könne ja als Ersatz dienen, falls die Lebenszeit für einen Roman nicht mehr reichen sollte. Gelesen wurde es ohnehin von immer mehr Menschen. Dass schon die Schwere seiner Erkrankung dem autobiografischen Projekt Gewicht verlieh, hat der Autor mit Sarkasmus zur Kenntnis genommen: «Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und Glioblastom der Rolls-Royce. Mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich dieses Blog jedenfalls nie begonnen.»
Und Herrndorf schrieb, manchmal täglich, manchmal mit Unterbrechung. Er empfand das oft als Belastung, die ihm das Wertvollste, die verbleibende Zeit, raubte, und neben sehr viel Bewunderung brachte das Blog auch unerwünschte, bisweilen rundheraus verstörende Zuwendung mit sich. Zum Schluss war die Arbeit am Text nur unter großer Mühe und mit Hilfe seiner Freunde möglich.
Dass aus dem Blog ein Buch wird, kritisch durchgesehen und lektoriert, hatte Wolfgang Herrndorf seit längerem als Wunsch formuliert. Seine schriftlich festgehaltenen Vorgaben dazu beschloss er mit einem Zitat von Stendhal: «Ich wollte, dass dieses Buch wie der Code civil geschrieben sei. In diesem Sinne sind alle dunklen oder unkorrekten Sätze zu korrigieren.» Das haben die von ihm Beauftragten zu erfüllen versucht. Viel zu tun hatten sie dabei nicht.
An wenigen Stellen im Text sind Passagen aus einem Dokument eingefügt, das der Autor zum Vergleich und zur Ergänzung herangezogen sehen wollte. Andere Teile daraus, die in der Chronologie nicht eindeutig zu platzieren waren, befinden sich im mit «Fragmente» überschriebenen Anhang. Anonymisierungen wurden in der Regel aufgelöst. Links, die im Blog gesetzt waren, sind in der gedruckten Ausgabe des Textes durch Einträge im Anmerkungsteil ersetzt, der ansonsten bewusst knapp gehalten wurde. Die farbigen Abbildungen im Blog erscheinen in der Buchversion aus technischen Gründen schwarzweiß.
Ein Nachwort sei «bei Bedarf» zu verfassen, «insbesondere, wenn ich, was ich nicht hoffe, mit meinen Aufzeichnungen nicht selbst bis zuletzt durchhalte». Herrndorf wünschte sich darin eine medizinisch-fachliche Beschreibung seines Todes: «Wie es gemacht wurde; wie es zu machen sei. Oder bei Misserfolg eben: Wie es nicht zu machen sei. Kaliber, Schusswinkel, Stammhirn etc., für Leute in vergleichbarer Situation. Das hat mich so viele Wochen so ungeheuer beunruhigt, keine exakten Informationen zu haben.»
Wolfgang Herrndorf hat es gemacht, wie es zu machen ist. Am Montag, den 26. August 2013 gegen 23:15 schoss er sich am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf. Er zielte durch den Mund auf das Stammhirn. Das Kaliber der Waffe entsprach etwa 9mm. Herrndorfs Persönlichkeit hatte sich durch die Krankheit nicht verändert, aber seine Koordination und räumliche Orientierung waren gegen Ende beeinträchtigt. Es dürfte einer der letzten Tage gewesen sein, an denen er noch zu der Tat imstande war.

Marcus Gärtner/Kathrin Passig

(aus: Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur)