Der Tod von Sir Walter Raleigh

Der Tower ist aus Stein, die Abgeschiedenheit steinern.
Er ist der Schädel eines Mannes um den Körper eines Mannes – und sein Mark ist das Denken. Doch kein Gedanke wird je die andere Seite der Mauer erreichen. Und die Mauer wird nicht zerfallen, auch nicht unterm Hammer eines Menschenauges. Denn die Augen sind blind, und wenn sie sehen, dann nur, weil sie gelernt haben zu sehen, wo kein Licht ist. Es gibt hier nichts als Denken, und es gibt nichts. Der Mann ist ein Stein, der atmet, und er wird sterben. Ihn erwartet nichts als der Tod.

Das Thema ist demnach Leben und Tod. Und das Thema ist Tod. Ob der Lebende bis zum Eintritt des Todes jemals gelebt haben wird, oder ob der Tod nur der Zeitpunkt ist, an dem das Leben aufhört. Hier wird mit Taten argumentiert, und daher können Worte hier nichts ausrichten. Denn wir werden niemals sagen können, was wir sagen wollen, und was immer gesagt wird, ist im Bewusstsein dieses Nichtkönnens gesagt. All dies ist Spekulation.

Eines ist sicher: Dieser Mann wird sterben. Der Tower ist unerschütterlich, die Mauern unendlich dick. Aber des Denken setzt gleichwohl seine eigenen Grenzen, und der Denkende kann hin und wieder über sich selbst hinausgehen, auch wenn er nirgendwo hingehen kann. Er kann zu Stein werden oder die Geschichte der Welt schreiben.

Wo es keine Möglichkeit gibt, wird wieder alles möglich.

Also Raleigh. Oder ein Leben, gelebt als Selbstmordpakt mit sich selbst. Und ob es eine Kunst – falls man es eine Kunst nennen kann – des Lebens gibt oder nicht. Man nehme diesem Mann alles weg, so wird er dennoch weiterexistieren. Wenn er fähig war zu leben, wird er auch sterben können. Und wenn nichts mehr übrig ist, wird er wissen, wie er der Mauer entgegenzutreten hat.

Dem Tod. Und wir sagen »Tod«, als meinten wir das, was wir nicht kennen können. Und doch kennen wir es, und wissen, dass wir es kennen. Denn wir halten dies Wissen für unwiderlegbar. Es ist eine Frage, auf die es niemals eine Antwort gibt, und sie führt auf zahlreiche Fragen, die uns wiederum zurückführen zu dem, was wir nicht kennen können. Wir können also getrost fragen, was wir fragen werden. Denn das Thema ist nicht nur Leben und Tod. Es ist Tod, und es ist Leben.
In jedem Augenblick kann eintreten, was nicht möglich ist. Und aus jedem Gedanken wird ein gegensätzlicher Gedanke geboren. Im Tod erblickt er ein Bild des Lebens. Aus einem Ort entspringt die Verheißung eines anderen Orts. Amerika. Und an den Grenzen des Denkens, dort, wo die neue Welt die alte aufhebt, wird ein Ort erfunden, der den Ort des Todes einnimmt. Er hat seine Gestade bereits berührt, und sein Bild verfolgt ihn bis ans Ende. Es ist das Paradies, es ist der Garten Eden vor dem Sündenfall, und er bringt einen Gedanken hervor, der weiter reicht als der Zugriff jedes Menschen. Und dieser Mensch wird sterben. Und nicht nur sterben – er wird einem Mord zum Opfer fallen. Ein Beil wird ihm den Kopf abschlagen.

So fängt es an. Und so hört es auf. Wir alle wissen, dass wir sterben werden. Und wenn es nur eine Wahrheit in unserem Leben gibt, dann die, dass wir sterben werden. Aber fragen dürfen wir, nach dem Wie und Wann, und ob der Zufall nicht der einzige Gott sei. Die Christen sagen nein, und der Selbstmörder sagt nein. Beide sagen, sie haben die freie Entscheidung, und beide treffen ihre Entscheidung, der eine durch den Glauben, der andere durch den Nichtglauben. Was aber ist mit dem Mann, der weder glaubt noch nicht glaubt? Er stürzt sich ins Leben, lebt das Leben zur Gänze des Lebens und gelangt schließlich ans Ende. Denn der Tod ist wahrlich eine Mauer, und über diese Mauer kommt niemand hinweg. Wir wollen also nicht fragen, ob man die freie Entscheidung hat oder nicht. Man hat sie und hat sie nicht. Je nachdem, wer und warum. Zunächst einmal gilt es einen Ort zu finden, an dem wir allein und dennoch miteinander sind, jenen Ort also, an dem wir enden. Dort steht die Mauer, und dort ist die Wahrheit, der wir entgegentreten. Die Frage lautet: In welchem Augenblick beginnt man die Mauer zu sehen?

Erwägen wir die Fakten. Dreizehn Jahre im Tower, dann die letzte Reise nach Westen. Ob er schuldig war oder nicht (und er war es nicht), hat auf die Fakten keine Auswirkung. Dreizehn Jahre im Tower, da lernt ein Mann allmählich, was Einsamkeit ist. Er lernt, dass er nur ein Körper ist, er lernt, dass er nur ein Geist ist, er lernt, dass er nichts ist. Er kann atmen, er kann gehen, er kann sprechen, er kann lesen, er kann schreiben, er kann schlafen. Er kann die Steine zählen. Er kann ein Stein sein, der atmet, oder er kann die Geschichte der Welt schreiben. Aber in jedem Augenblick ist er der Gefangene von anderen, und sein Wille gehört nicht mehr ihm. Nur seine Gedanken gehören ihm selbst, und er ist allein mit ihnen, wie er allein ist mit dem Schatten, der er geworden ist. Aber er lebt. Und nicht nur lebt er – er lebt so sehr, wie seine Grenzen es nur erlauben. Und über sie hinaus. Denn ein Bild des Todes spornt ihn gleichwohl an, das Leben zu finden. Und doch hat sich nichts geändert. Denn ihn erwartet nichts als der Tod.

Aber das ist nicht alles. Und die Fakten müssen weiter erwogen werden. Es kommt nämlich der Tag, an dem er den Tower verlassen darf. Man hat ihn freigelassen, frei aber ist er nicht. Ein vollständiger Straferlass wird ihm nur unter der Bedingung gewährt, dass er etwas leistet, das absolut unmöglich zu leisten ist. Bereits das Opfer der gemeinsten politischen Intrige – der Knüppel der Justiz ist Amok gelaufen –, wird er es ein letztes Mal versuchen und zum sadistischen Ergötzen seiner Kerkermeister den großartigsten Misserfolg seines Lebens produzieren. Einst der Fuchs genannt, gleicht er nun einer Maus im Maul einer Katze. Der König befiehlt ihm: Geh in das Land, auf das die Spanier berechtigte Ansprüche haben, raube ihr Gold, bringe sie aber nicht gegen dich auf und reize sie nicht zu Racheakten. Jeder andere hätte gelacht. Vor dreizehn Jahren angeklagt, mit den Spaniern konspiriert zu haben, und deshalb in den Tower geworfen, heißt man ihn nun etwas, das letzten Endes genau die Anklage entkräftet, deren er überhaupt für schuldig befunden wurde. Aber er lacht nicht.

Es ist anzunehmen, dass er wusste, was er tat. Entweder glaubte er vollbringen zu können, wozu er sich aufmachte, oder die Lockung der neuen Welt war so stark, dass er einfach nicht widerstehen konnte. Wie auch immer, es spielt heute keine Rolle mehr. Alles, was für ihn schiefgehen konnte, ging schief: Die Reise war von Anfang an eine einzige Katastrophe. Nach dreizehn Jahren der Einsamkeit ist es nicht einfach, in die Welt der Menschen zurückzukehren, und dies umso weniger, wenn man alt ist. Und er ist jetzt ein alter Mann, über sechzig Jahre alt, und die Gefängnisträume, in denen seine Gedanken sich in die glorreichsten Taten verwandelten, zerfallen nun vor seinen Augen zu Staub. Die Mannschaft rebelliert gegen ihn, das Gold wird nicht gefunden, die Spanier sind feindselig. Und das Schlimmste: Sein Sohn wird getötet.

Man nehme einem Menschen alles weg – er existiert weiter. Aber das Alles des einen Menschen ist nicht das eines anderen, und selbst die stärksten Menschen sind an irgendeiner Stelle sehr verletzlich. Bei Raleigh wird diese Stelle von seinem Sohn besetzt, der gleichzeitig Symbol seiner größten Stärke und der Keim zu seinem Verderben ist. Allem Äußerlichen bringt der Sohn den Untergang, und mag er auch ein Kind der Liebe sein, so bleibt doch der lebende Beweis der Sinnlichkeit, der wilden Lust eines Mannes, der bereit ist, alles zu wagen, um die Ansprüche seines Körpers zu befriedigen. Aber diese Lust ist gleichwohl Liebe, eine Liebe, wie sie selten reiner vom Wert eines Menschen kündet. Denn man tändelt nicht mit einer Hofdame der Königin, es sei denn, man ist bereit, seine Stellung, seine Ehre und seinen Namen zu ruinieren. Solche Frauen gehören der Königin, und kein Mann, nicht einmal der in höchster Gunst stehende Mann, darf ohne königliche Zustimmung an sie herantreten oder sie gar besitzen. Und doch zeigt er keinerlei Anzeichen von Reue; er rechtfertigt alles, was er getan hat. Denn Schande muss nicht Scham nach sich ziehen. Er liebt die Frau, er wird sie immer lieben, sie wird zum ganzen Inhalt seines Lebens. Und im ersten prophetischen Exil wird ihm sein Sohn geboren.
Der Junge wächst heran. Und er wird wild. Der Vater kann ihn nur vergöttern und sich Sorgen machen, ihn ermahnen und sich wärmen am Feuer seines eigen Fleisch und Blut. Er schreibt ein außerordentliches Tadelgedicht an den Jungen, gleichermaßen eine Ode an den Zufall und ein Wüten gegen das Unvermeidliche; er sagt in diesem Gedicht, wenn er sich nicht bessere, werde er noch am Ende eines Strickes landen. Und der Junge begibt sich mit Ben Jonson auf eine gigantische Vergnügungstour nach Paris. Der Vater kann nichts machen. Er kann nur warten. Als er schließlich den Tower verlassen darf, nimmt er den Jungen mit. Er braucht den Trost seines Sohnes, und er braucht das Gefühl, ein Vater zu sein. Aber der Junge wird im Dschungel ermordet. Er findet das vom Vater prophezeite Ende, und der Vater selbst ist, ohne es zu wollen, zum Henker seines Sohnes geworden.

Und der Tod des Sohnes ist der Tod des Vaters. Denn dieser Mann wird sterben. Die Reise war ein Fehlschlag, und dass er begnadigt werden könnte, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn. England bedeutet das Beil – und den hämischen Triumph des Königs. Er ist vor der Mauer angelangt. Und doch kehrt er zurück. An einen Ort, an dem ihn nur der Tod erwartet.
Er kehrt zurück, als alles ihm sagt, er müsse um sein Leben laufen – oder von eigener Hand sterben. Denn wenn man auch sonst nichts tun kann, kann man immer noch den Augenblick selbst bestimmen. Er aber kehrt zurück. Und die Frage lautet demnach: Wozu einen ganzen Ozean überqueren, nur um eine Verabredung mit dem Tod einzuhalten?
Wir können es, wie andere vor uns, Wahnsinn nennen. Wir können es auch Mut nennen. Doch wie man es nennt, spielt kaum eine Rolle. Denn Worte versagen hier. Und sollte es uns je gelingen, zu sagen, was wir sagen wollen, wird es gleichwohl im Wissen um dieses Scheitern geschehen. All dies ist also Spekulation.

Wenn es so etwas wie eine Kunst des Lebens gibt, dann hat derjenige, der das Leben als Kunst betreibt, ein Gespür für seinen Anfang und sein Ende. Darüber hinaus weiß er, dass sein Ende im Anfang inbegriffen ist und dass ihn jeder einzelne Atemzug nur diesem Ende näher bringt. Er lebt, aber er wird auch sterben. Denn kein Werk bleibt unvollendet, auch das nicht, das man aufgegeben hat.

Die meisten Menschen geben ihr Leben auf. Sie leben, bis sie nicht mehr leben, und dieses Letztere nennen wir Tod. Denn der Tod ist jene Mauer. Ein Mensch stirbt, und damit lebt er nicht mehr. Das aber ist nicht der Tod. Denn der Tod existiert nur im Anblick des Todes und im Leben des Todes.
Und wir können aufrichtig sagen, dass nur derjenige, der sein Leben zur Gänze lebt, auch seinen eigenen Tod zu sehen vermag. Und wir können aufrichtig sagen, was wir sagen. Denn Worte versagen hier.
Jeder Mensch nähert sich der Mauer. Der eine kehrt sich von ihr ab, und am Ende trifft ihn der Schlag von hinten. Ein anderer erblindet beim bloßen Gedanken daran und tastet sich ihr sein Leben lang ängstlich entgegen. Und wieder ein anderer sieht sie von Anfang an und lernt, wenngleich seine Furcht nicht geringer ist, ihren Anblick zu ertragen und mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Jede Tat zählt, bis hin zur allerletzten, denn alles ist ihm gleichgültig. Er lebt, weil er sterben kann. Und er wird dieMauer anfassen.

Daher Raleigh. Oder die Kunst des Lebens als die Kunst des Todes. Daher England – und daher das Beil. Denn das Thema ist nicht Leben und Tod. Es ist Tod. Und es ist Leben.
Und wir können aufrichtig sagen, was wir sagen.

– Paul Auster (1975)