Von: Sandra Konrad
Aus: Das beherrschte Geschlecht – Warum sie will, was er will
»Was will das Weib?«, fragte Freud Anfang des 20. Jahrhunderts und dieser Frage ist auch dieses Buch nachgegangen. Um zu verstehen, wie und was Frauen heute begehren, müssen wir zunächst fragen: »Was soll, was darf, was kann die Frau wollen?« Denn wie sich gezeigt hat, ist weibliche Sexualität bis heute so stark geprägt von männlichen Vorstellungen, dass individuelle Lust, aber auch individuelle Grenzen häufig unter gesellschaftlichen Normen verschüttet sind.
Auf den ersten Blick scheint es für das weibliche Geschlecht keine Einschränkungen mehr zu geben: Frauen haben heute One-Night-Stands und Affären. Frauen gucken Pornos. Frauen sprechen über ihre sexuellen Erfahrungen. Frauen befriedigen sich mit Sextoys. Frauen tindern. Frauen suchen sich jüngere Partner. Frauen bestellen sich Stripper, feiern enthemmte, sexualisierte Junggesellinnenabschiede, und manch eine kauft sich als Sextouristin unter Palmen einen Mann für gewisse Stunden.
Die Schamkultur, die Frau so lange hemmte, wurde abgelöst von einer Zeit der sexuellen Offenheit, des Narzissmus und einer öffentlich zur Schau gestellten Freizügigkeit. Die neue Frau erscheint in vielerlei Hinsicht wie der alte Mann: Frauen sollen heute sexuell aktiv sein, und sie sollen Sex und Gefühle fein säuberlich trennen können. Also wird die »typisch weibliche« Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung besonders in jungen Jahren oft unterdrückt, um nicht schwach und abhängig zu erscheinen.
Zudem hat sich mit der fortschreitenden Sexualisierung in der westlichen Welt ein neues Frauenbild entwickelt, das besonders junge Frauen zu einer Gratwanderung zwingt, die kaum zu meistern ist: Sie sollen genau das richtige Maß an Sex und sexy verkörpern. Nach wie vor scheinen der Körper und die Lust der Frau – letztlich ihr gesamtes sexuelles Leben – eher Eigentum der Allgemeinheit als freier Ausdruck ihrer Persönlichkeit und ihres privaten Vergnügens zu sein.
Um diese gesellschaftliche Kontrolle nicht spüren zu müssen, wird ein genialer Coup inszeniert: Sowohl die Sexualisierung als auch die Unterwerfung der Frau wird als der Gipfel ihrer Selbstbestimmung verkauft. Nun kann für die einzelne Frau sowohl das eine als auch das andere ein Zeichen von individueller sexueller Freiheit und Selbstbestimmung sein, aber hier werden wieder Normen aufgestellt, die für die Allgemeinheit gelten. Während Frauen also verkünden, dass alles so in Ordnung, gewollt und freiwillig ist, bleibt weibliche Sexualität auf den Mann ausgerichtet – auf seine Fantasien, seine Bedürfnisse, seine Befriedigung. Die ideale Frau von heute soll sexy statt prüde, aufgeschlossen statt passiv, aber immer noch »weiblich«, sprich angepasst genug sein, um den Mann in seiner Sexualität nicht zu bedrohen.
Obwohl Frauen heute zwar mehr Spielraum zur Selbstinszenierung haben als zuvor, haben sich die Bilder von Weiblichkeit nicht grundlegend weiterentwickelt, sie wurden lediglich um männliche Anforderungen ergänzt. Um es ein wenig holzschnittartig mit der Autorin Ariel Levy zu verdeutlichen: Heute kann sich die Frau entweder wie ein Mann verhalten und zum »weiblichen Chauvinisten-Schwein« mutieren, das mit Männern über sexistische Witze lacht und sie in Stripclubs unter den Tisch trinkt, oder sie wird zum Betthäschen, zur Sklavin der Weiblichkeit und erfüllt das Bild, das ihm gefällt und ihr das Begehrtwerden sichert. Die Frau, die mitspielen will, muss sich nach männlichen Regeln richten, so oder so. Aber sie darf oder will diese Zwänge nicht spüren, um das Spiel und ihre Illusion der Unabhängigkeit nicht zu gefährden. Kognitive Dissonanzen – also das Unwohlsein aufgrund der vielen Widersprüche zwischen gefühlter und realer Freiheit – werden aufgehoben, indem man sich an Normen ausrichtet, die die Freiheit versprechen oder zumindest das, was allgemein unter Freiheit bekannt ist.
Sexuelle Freiheit ist derzeit ein Imageprodukt, ein It-Accessoire, das stolz mit sich herumgetragen wird. Aber die spontane Bejahung sexueller Freiheit sagt noch nichts über den Grad sexueller Selbstbestimmung aus. Wissen Frauen, was ihnen gefällt? Wissen sie, wie sie es bekommen? Trauen sie sich, sich für ihre Wünsche einzusetzen?
Was mich in den Gesprächen mit jungen Frauen am meisten überraschte, war die Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild und ihrem Verhalten: Sie sprachen von Macht und Selbstbewusstsein, verhielten sich aber absolut angepasst, norm- und regelkonform. Sie beteuerten, selbstbestimmt zu sein, und berichteten gleichzeitig, wie sie physisch und psychisch über ihre Grenzen gingen, und zwar nicht, um ihre eigene Lust zu erkunden, sondern um Männern zu gefallen.
Immer wieder schien mir, als sei das Bild, das sie nach außen abgeben wollen, wichtigen als ihre innersten Bedürfnisse und als ob vielen dieser klugen, aufgeklärten Frauen überhaupt nicht bewusst sei, wie unfrei oder frei, mächtig oder ohnmächtig sie tatsächlich sind. Denn oft mangelt es bereits an einem Zugang zu den eigenen Bedürfnissen: Viele Frauen kennen ihren Körper nicht. Viele Frauen mögen ihren Körper nicht. Viele Frauen schämen sich – für ihre Leibhaftigkeit, ihre Fantasien, ihre ungenormte Individualität. Also passen sie ihren Körper, ihr sexuelles Verhalten und ihre Außendarstellung an Normen an, um ihr Selbstwertgefühl zu stärken – und schwächen es gerade dadurch.
Aber was bedeutet sexuelle Freiheit, wenn sie als Gesetz daherkommt und jegliche Abweichung und jeder Widerspruch als uncool gilt? Denn wer sich der Freiheit nicht unterwirft, wer den derzeitigen Anforderungskatalog der sexuellen Normen nicht erfüllen kann oder möchte, hat schlechte Karten. Aufgeschlossenheit ist der Wert der Stunde, der Sexualität zumindest für die jüngere Generation von Liebe und Intimität entkoppelt. Es geht der Generation Z heute oftmals weniger darum, mit wem sie schläft, als vielmehr darum, dass sie es tut und vor allem: dass darüber geredet wird.
Durch die permanente Verfügbarkeit und das öffentliche Sprechen darüber wird der Sex überhöht und entzaubert zugleich. Trotz oder gerade wegen aller nur erdenklichen Freiheiten haben sich neue Zwänge entwickelt: die Gesetze des Marktes, die Sexualität als Ware betrachten und Angebot und Nachfrage über die Massen von Bildern, die unsere Gesellschaft überschwemmen, regeln. Der Einzelne nimmt an diesem Markt (unweigerlich bis begeistert) teil, denn »dazuzugehören« ist ein menschliches Bedürfnis, und seit Facebook, Instagram, youporn und Co. verbreiten sich Normen schneller und zwingender als je zuvor.
Aus Individuen wird eine gleichgeschaltete Masse, die sich mit einer Schwarmmentalität in dem vorgegebenen Sexparcours bewegt, in dem alles erlaubt ist: Alles – außer »Nein« zu sagen. Grenzen zu setzen ist wie ein muffiger, altmodischer Mantel, der einem so lange aufgezwungen wurde, dass man ihn bei der erstbesten Gelegenheit ein für alle Mal entsorgt hat und seither lieber friert, als zuzugeben, dass er ab und an auch ganz praktisch sein könnte.
Aber was haben wir gewonnen, wenn Freiheit mit dem Terror des Ja daherkommt? Was haben wir verloren, wenn das gute alte Nein keinen Wert mehr hat, wenn individuelle Grenzen nicht mehr spürbar sein dürfen, weil sie uns zu einem erotischen Hinterwäldler machen?
Bei allem Fortschritt, den nicht zuletzt die Frauenbewegung bewirkt hat – sexuelle Freiheit ist nur eine Seite der Medaille, sexuelle Selbstbestimmung die andere, und sie sollten nicht verwechselt werden. Sexuelle Freiheit ist das, was die Gesellschaft heute erlaubt. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Kind der sexuellen Freiheit, aber sie wird oft nicht genutzt, weil der Druck der Gesellschaft so stark ist, dass die eigenen Bedürfnisse und die eigenen Grenzen gar nicht wahrgenommen oder nicht geachtet werden. Und so ist das Tabu des 21. Jahrhunderts nicht der Sex, sondern Grenzen. Sexualität muss heute nicht mehr befreit werden, Sexualität muss heute bewusst gestaltet und erlebt werden, oder wie Rousseau vor knapp 300 Jahren schon erkannte: »Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.«
Nein zu sagen in einer Welt, in der man endlich auch als Frau Ja sagen darf (und mittlerweile auch soll), ist nicht immer leicht. Aber das Privileg der Freiheit wird zum Bumerang, wenn wir keine Verantwortung für unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen übernehmen.
Es erfordert einigen Mut von Frauen, sich mit ihrer Begierde, ihren Bedürfnissen und ihren Grenzen zu zeigen – sich zuzumuten, wie es so schön heißt. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau, das seit etwa 100 Jahren langsam, aber stetig gestärkt wird, gibt Frauen die Möglichkeit, den »dunklen Kontinent«, wie Freud die weibliche Sexualität einst nannte, zu erkunden und sich selbst in all ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrer Lust und Unlust, ihren Fantasien und Forderungen, Abgründen und Höhenflügen, in ihrem Wollen und ihrem Weigern anzunehmen.
Die Frau von heute hat alle erdenklichen Freiheiten und endlich auch das Recht und die Macht, sie zu nutzen.
Was fängt sie damit an?
ISBN: 978-3-492-23619-5