Siebenundzwanzig Bilder | Aaron Neubert fotografiert Jürgen Baldiga Oktober 1991 bis Dezember 1993
Jürgen Baldiga entschied bei der Regelung der Angelegenheiten für seinen absehbaren Tod, dass er eingeäschert werden wollte. Er bat Aron Neubert, die Verbrennung fotografisch festzuhalten: Das letztgültige Bild der sichtbaren Auflösung seines Körpers, der das Objekt unzähliger Selbstportraits war, die Jürgen Baldiga schon von sich geschossen hatte. Aron gab das Versprechen, diese Aufnahme zu machen. Im Gegenzug verlangte er, für jeden Monat, den Jürgen noch lebte, einen Termin zu vereinbaren, an dem er Jürgen fotografieren würde. Daraus sollte eine Serie werden, die dann im Bild aus dem Krematorium ihren Abschluß gefunden hätte.
Aufgrund dieses entfernt an einen Teufelspakt erinnernden Vertrags zwischen Freunden kamen die hier vorgestellten Portraits zustande. Hinter der Kamera war Jürgen Baldigas Neugier auf jede Schattierung von Exhibitionismus gerichtet. Er erforschte die mal introvertierte, mal extrovertierte Suche der Porträtierten nach ihrem Selbstbild. Das Objekt, als das er sich vor Aron Neuberts Kamera angeboten hatte, war von der Faszination durch das restlose Verschwinden des eigenen Bildes bestimmt. Der Wunsch eines umgekehrten Narziß. Der aus dem Mythos verging im Verlangen, sich mit seinem Spiegelbild im Wasser zu vereinen. Bald erfreut er sich — mit seinem Bild eins geworden — an dessen Vernichtung im Feuer. Es wäre falsch, dieses Fest der Vergänglichkeit nur als Verliebtheit in den Tod zu verstehen. Vor allem ist es eine Form, den Tod zu verdrängen, vergleichbar dem Eifer, mit dem Baldiga seine eigene Bestattungsfeier plante. Der Redner für die Totenfeier war bestimmt und sogar die Musik dafür hatte Jürgen noch wenige Tage vor seinem Tod selbst auf eine Kassette überspielt. Auch das Sterben wurde nicht dem Zufall überlassen. Mit Freunden stieß er am letzten Abend auf die Entscheidung an, daß der physischen Unmöglichkeit, ein Leben nach selbst gesetzten Maßstäben zu führen, nun ein Ende gemacht werden sollte.
Das eigentliche Gelingen der Porträtserie liegt darin begründet, daß sie sowohl den Entwurf der eigenen Person, die Jürgen Baldiga lebte, als auch die Brüche in seiner Selbststilisierung abbildet. Vertrautheit und Nähe verbannen jeden Voyeurismus. Im Wechsel von gestellten Posen und Schnappschüssen geben die Fotografien die Gesamtinszenierung des Lebens wieder, als dessen integrale Bestandteile die Folgen von Aids dargestellt sind: Krankheit, die Klinikaufenthalte und medizinische Behandlungen. So erscheint etwa der häufige Aufenthaltsort des Bettes sowohl als schöne Draperie als auch als Ort der Krankheit und intimer Zweisamkeit. Obwohl die Chronologie der Bilder und das Vergehen der Zeit in Jürgens Gewichtsverlust zu bemerken sind, zeichnen die Abbilder keine Linie des Verfalls nach. Infusionsgerät, Magenspiegelung, Katheter, Übelkeit, Gedanken an den Tod haben dieselbe — einschränkende — Normalität wie Selbstverliebtheit, Liebschaft, Eisessen, Drogen, Beruf, politische Aktivität oder schwules Leben. Gleichwertig und in ihrer Reihenfolge austauschbar, werden hier Facetten des Lebens ausgebreitet.
Wie im literarischen Vorbild des Teufelspakts, bei dem beide Parteien zuletzt verlieren müssen (im Rahmen christlicher Vorstellung muß schließlich immer ein Drittes, nämlich die göttliche Macht sich durchsetzen), kam auch die Porträtserie nicht zum vereinbarten Schluß. Keiner der beiden hatte mit den gesetzlichen und bürokratischen Hindernissen gerechnet, an der das Ziel, im Krematorium vor dem Verbrennungsofen zu fotografieren, scheiterte. (Das göttliche Dritte ist durch die der Einflußnahme entzogenen Realitäten ersetzt.) Das letzte Foto, das Jürgen Baldiga sich gewünscht hatte, kam nicht zustande. An seine Stelle ist ein Bild des Toten in seinem Bett getreten. In diesem Bild verkehrt sich das Problem, dem Leben ein Abbild abzuringen, das für Aron Neubert wichtiger als die Vergänglichkeit war, um die es Jürgen Baldiga ging, ins Gegenteil. Das Bild ist für sich genommen kein Beweis, daß Jürgen Baldiga nicht nur schläft.
– Ulmann-Matthias Hakert
Wärme, die nur Feuer uns geben kann | Edition Objektiv | ISBN 3-9804363-0-6