Sinnfenster

Das Gehirn meines Vaters
Während meine Frau einen Krankenstuhl aus dem Heim holte, saß mein Vater neben mir und musterte das Portal, das ihn nun zurückerwartete. «Lieber gar nicht erst raus», sagte er mit kräftiger, klarer Stimme, «als hinterher wieder rein.» Das war keine wirre Äußerung, sie bezog sich direkt auf seine Situation und erweckte stark den Eindruck, dass er nicht nur sein Leiden wahrnahm, sondern auch sein Eingebundensein in Vergangenheit und Zukunft. Es war die Bitte, ihm die schmerzhafte Rückkehr in die Erinnerung und ins Bewusstsein zu ersparen. Und es kam, was kommen musste: Am Morgen darauf und für die restliche Zeit unseres Besuches tobte er, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Er brüllte wirres Zeug und drosch wütend um sich.
David Shenk meint, das wichtigste «Sinnfenster», das sich der Alzheimer-Krankheit abgewinnen lässt, sei die Verlangsamung des Sterbens. Er vergleicht die Krankheit mit einem Prisma, das den Tod in ein Spektrum aus Vorgängen zerlegt, die normalerweise zusammen stattfinden – erst stirbt die Autonomie, dann das Gedächtnis, dann die Selbstwahrnehmung, dann die Persönlichkeit, am Ende der Körper –, und bestätigt damit ein verbreitetes Urteil über die Krankheit: Sie sei deshalb besonders traurig und schrecklich, weil die Persönlichkeit lange vor dem Körper stirbt.
Das scheint mir im Wesentlichen richtig zu sein. Als das Herz meines Vaters stehen blieb, trauerte ich schon seit Jahren um ihn. Und doch frage ich mich beim Betrachten seiner Geschichte, ob man die verschiedenen Tode wirklich voneinander trennen kann, ob Gedächtnis und Bewusstsein tatsächlich und unangefochten der Hort der Persönlichkeit sind. Ich kann nicht aufhören, in den zwei Jahren, die dem Verlust seiner «Persönlichkeit» folgten, einen Sinn zu suchen – und zu finden.
Vor allem imponiert mir, dass ihm der Wille erhalten blieb.
Ich kann mich des Glaubens nicht erwehren, dass er einen Körperrest seiner einstmaligen Selbstdisziplin, eine Kraftreserve jenseits von Gedächtnis und Bewusstsein in sich aktivierte, als er sich vor dem Pflegeheim mit seiner Bitte an mich wandte. Ich kann mich des Glaubens nicht erwehren, dass sein Zusammenbruch am nächsten Morgen wie auch die Krise in der allerersten Krankenhausnacht auf eine Kapitulation dieses Willens hinauslief, dass es sich um ein Loslassen handelte, eine Flucht in den Wahnsinn angesichts unerträglicher Empfindungen. Obwohl wir den Ausgangs- und Endpunkt des Verfalls fixieren können (körperliche und geistige Gesundheit auf der einen Seite, Erlöschen und Tod auf der anderen), war sein Gehirn nicht einfach eine Rechenmaschine, die sich fortschreitend und immer heilloser verhedderte.

– Jonathan Franzen, Anleitung zum Einsamsein