Schläfer

»Ich spürte plötzlich eine Art von Zärtlichkeit für diesen Menschen. Ich spürte für ihn die Zärtlichkeit, die man für die gesamte gewöhnliche Menschheit empfindet, für das Banal- Alltägliche des Familienoberhauptes, das zur Arbeit geht, für sein schlichtes und fröhliches Heim, für die heiteren und traurigen Vergnügungen aus denen sein Leben notgedrungen besteht, für die Unschuld eines Lebens ohne Analyse, für die tierische Natürlichkeit dieses bekleideten Rückens.
Ich schaute auf den Rücken des Mannes wie auf ein Fenster, durch das hindurch ich diese Gedanken erblickte.
Die Empfindung glich genau derjenigen, die uns vor einem Schlafenden überkommt. Jeder Schläfer wird von neuem zum Kind. Vielleicht weil man im Schlaf nichts Böses tun kann und das Leben nicht bemerkt, ist der größte Verbrecher, der verschlossenste Egoist dank einer natürlichen Magie geheiligt, so lange er schläft.
Zwischen dem Mord an einem Schlafenden und dem Mord an einem Kind kenne ich keinen merklichen Unterschied. Nun, der Rücken dieses Mannes schläft. Seine ganze Person, die vor mir mit einem dem meinigen gleichen Schritt einhergeht, schläft. Er geht unbewusst. Er lebt unbewusst. Er schläft, weil wir alle schlafen. Das ganze Leben ist ein Traum. Niemand weiß, was er tut, niemand weiß, was er will, niemand weiß, was er weiß. Wir verschlafen das Leben, ewige Kinder des Schicksals. Deshalb verspüre ich, wenn ich mit diesem Empfinden denke, eine gestaltlos unermessliche Zärtlichkeit für die ganze kindliche Menschheit, für das ganze schlafende Leben in der Gesellschaft, für alle, für alles.«

– Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe