Kronzeuge

»Als Zuschauer aber, als Zeuge leben, heißt nicht leben. Die technische Welt des Abendlandes bietet den Menschen nur noch einen Platz als Zuschauer an. Eine bittere Ironie: das einzige, was man mir bei allen Durchsuchungen nicht wegnahm, ist meine Brille. Das zeigt deutlich, welche Rolle mir allein noch erlaubt ist. Manchmal habe ich es als großmütig empfunden, daß mir die Soldaten die Brille nicht abgenommen haben. Es war keine Großmut, es war Sadismus. Nicht nur, daß sie dadurch meine Rolle als Zuschauer eindeutig bestimmten, sie haben mir auch vorgeschrieben, was ich zu sehen hatte: die Lager. Etwas anderes darf ich nicht sehen, nur: Lager, Irrenanstalten, Gefängnisse, Soldaten, Kilometer von Stacheldraht. Und daher verzichte ich auf die Brille. Ich verzichte auf das einzige, was mir noch erlaubt war hier unten. Gläser sind genau wie die Augen, eines der wunderbarsten, der unvergleichlichsten Dinge auf dieser Erde. Aber nur solange man am Leben teilhat. Wenn du aber über kein Leben mehr verfügst, oder dir nur einige Tropfen davon verbleiben, oder du nur einen zeitweiligen und begrenzten Zutritt zum Leben hast, dann werden die Augengläser zu einem unglückseligen Scherz. Hast du je einen Toten eine Brille tragen sehen?«

– Constantin Virgil Gheorghiu, 25 Uhr