Azur

»Martin sah Andrea, wie sie jetzt war, aber auch, wie sie einst gewesen war, und während er ihr in die scheinheiligen veilchenfarbenen Augen blickte, stellte er sich ihr selbstgefälliges, vom Alter zerfressenes Gesicht mit Falten um die Augen und so tiefen Furchen um den Mund vor, daß die Lippen nur noch eine schmale Linie bildeten.
Zugleich sah er sich selbst, Auge in Auge mit ihr, und wie mit Röntgenblick sah er die Zukunft, die sie beide erwartete, sobald die Leidenschaft erloschen sein und und als einziges Band zwischen ihnen die Willenskraft bleiben würde, so wie Efeu sich an Gemäuer und Baumstämme krallt und noch da ist, wenn sie selbst schon lange nicht mehr existieren.

Ja, Efeu überwuchert die Stämme von Ulmen, umspannt sie, während er höher und höher klettert, mit einem Geflecht aus Zweigen mit winzigen Blättern, die mit der Zeit immer größer und dichter werden. Auch die Wurzelstränge erstarken und schlingen sich wie Schlangen um den Stamm, der schon bald nicht mehr atmen, wachsen und schließlich nicht mehr weiterleben kann, auch wenn er schön anzuschauen ist mit seiner romantischen Gestalt, sommers wie winters mit dem Kleid aus glänzenden Blättern angetan, die so schön sind, daß kein Gärtner es je wagen würde, sie zu stutzen. Bald wird es keinen Ast und keinen Zweig mehr geben, die nicht von Efeu bedeckt wären, und die zarten Blätter des schon halb strangulierten Baumes, die er mit letzter Kraft getrieben hat, vertrocknen lange vor dem Herbst, und dann vermag auch der Frühlingsregen, der ohnehin nur fällt, um den Efeu zum Glänzen zu bringen, sie nicht mehr zum Leben zu erwecken. So kümmert der Baum vor sich hin. Doch den Efeu schert es wenig, ob er lebt oder stirbt, denn alles, was er braucht, ist eine Stütze, ein Gerüst, ohne das er sich nur auf dem Boden ausbreiten und nie in die Höhe wachsen könnte. Dank des Baumes vermag er mit anderen Pflanzen zu wetteifern, ihnen davonzuklettern, sich über sie zu erheben – bis der Stamm im Würgegriff allmählich vergeht, sich, schon halb abgestorben, nicht mehr aufrecht halten kann und stürzend den Efeu mit in die Tiefe reißt, so daß er ebenfalls eingeht oder ziellos über den Boden kriecht.«

– Rosa Regás, Azur