Von Verschlungenen verschlungen

»Nachts weiß man nicht, ob das was man atmet, Luft oder Finsternis ist.«

»Wozu eigentlich Einspruch erheben, schreien, mich auflehnen, zerstören? Ich bin auf der Suche nach mir, wie der Doktor sagt. Wozu eigentlich? Je tiefer ich in mir bohre, desto mehr zerrütte ich mich. Ich suche bei mir einen Knoten, und ich werde nie zu diesem Knoten gelangen. Ich weiß, dass es keinen gibt. Ich hegte den Ehrgeiz, das Chaos in mir selbst neu herzurichten, noch einmal bei Null anzufangen. Ich habe große Angst, dass man, einmal bei Null angelangt, nichts mehr neu anfangen kann. Ich bin auf der Suche nach mir, wie der Doktor sagt. Das hat nicht viel zu bedeuten. Ich lebe. Ich weiß nicht was man tun muss, wenn man lebt. Ich habe das Leben. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was man damit machen muss. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin hier umhergestolpert, da umhergestolpert. Ich bin nirgendwo hingelangt. Ich bin in ein Land gelangt, wo ich mich zu Tode langweile. Sich umbringen, umherstolpern oder sich gehen lassen. Wenn es einem am Herzen liegt, selbst das Gesetz seines Lebens zu sein, taugt es weder, sich zu töten, noch umherzustolpern, noch sich gehen zu lassen. Mir war danach zumute, mich sterben zu lassen, einfach so, um mir die Langeweile zu vertreiben. Um mir eine Seele zu schaffen, habe ich mein Herz zerstört, habe ich alles verbrannt, was ich an Unbefangenheit hatte. Ich habe der Uhr nur ein paar Axthiebe versetzt, und schon geht sie nicht mehr, schon bin ich krank, schon bereue ich bitter, schon möchte ich alles wieder geradebiegen, alles wieder zusammenschweißen, alles reparieren, schon würde ich gerne alle Schräubchen wiederfinden. Gewiss werde ich mich wieder erholen. Aber ich werde nicht zum Ausgangspunkt zurück können. Wenn man zehn oder tausend Axthiebe austeilt, kann man nicht mit einem einzigen Axthieb zurück. Das lässt mich vor Angst zu Eis erstarren. Bei der Geburt funktioniert man. Wenn man sich sein ganzes Leben lang gehen lässt, funktioniert man sein ganzes Leben lang weiter. Der Motor, der mich funktionieren lässt, entzieht sich meinem Verstand und meinem Willen. Und das ärgert mich. Bewaffnet mit einer Axt, öffne ich den Motor. Ich schaue entzückt, studiere, begreife. Der Funke lässt den Treibstoff explodieren. Durch die Kraft der Explosion senkt sich der Kolben. Dabei setzt der Kolben die Kurbelwelle in Bewegung. Die Kurbelwelle lässt die Antriebswelle kreisen, und das Differential überträgt die Bewegung der Antriebswelle auf das Rad. Das ist das Ei des Kolumbus. Doch ich denke: Dieser Motor gehorcht mir nicht. Wenn ich zu ihm spreche, hört er mir nicht zu. Er macht nur, wonach ihm der Sinn steht. Wenn er nicht mir gehorcht, wem gehorcht er dann? Solche Kräfte sollen in meinem Leben nicht den Reigen führen. Axtschlag für Axtschlag zertrümmere ich den Funken, den Treibstoff, den Kolben, die Kurbelwelle, die Antriebswelle und das Differential. Dieses Rad wird sich nur noch drehen, so wie ich es will! Ich stemme meine Schulter ans Rad und schiebe. Wir werden nicht weit kommen, Bérénice, doch wir werden uns so bewegen, wie es uns gefällt, mit unseren eigenen Mitteln. Ich verausgabe mich bis zur Erschöpfung, werde krank. Sie lassen den Doktor kommen. Der Doktor sagt, dass er den Motor wohl wieder in Gang setzen kann, dass er aber nie mehr wie ein Motor funktionieren wird, den man in Ruhe gelassen hat. Ich werde niemals wieder glauben können. Die Getriebe und Federn meiner Gefühle sind hin. Ich glaube an niemanden. Ich glaube an nichts. Ich habe nur noch das Rad und den Willen. Schluss mit dem Massaker! Die fremden Kräfte, die mich lenken, haben nicht nur ihre hasswerte Allmacht, sie haben auch zärtliche Seiten. Sie packen einen nicht nur an der Gurgel. Manchmal packen sie einen auch zart am Nacken. Lass sie machen. Kupple aus. Lass fahren. Wer weiß, wohin man dich mitnimmt? Bist du nicht auf Überraschungen und Entdeckungen aus? Nichts ist ärmer an Überraschungen und langweiliger als die Länder, die man selbst erschafft. Sollen sie für dich machen, dich überraschen, dich ins Unbekannte mitnehmen. Wer sich sucht, findet nichts. Wer sich sucht, sucht in sich selbst jemand anderen als sich selbst. Wenn er bis zum Ende geht, findet er ein Protozoon. Jenseits des Protozoons ist die Materie. Jenseits der Materie ist das Nichts. Der Mensch hat sich aus einem Protozoon entwickelt. Man kann nicht ernsthaft wieder bei Null anfangen wollen, wenn man nicht auch das Leben wieder los sein will. Doch zuvor muss man wieder Affe, Saurier, Trilobit, Protozoon werden. Wenn man mich hier auf diesem Bett ruhen sieht, reglos, nichts tuend als mein Herz schlagen und meine Lunge Luft speichern zu lassen, könnte man glauben, dass ich das letzte Stadium der Rückentwicklung der Arten erreicht hätte, dass ich nicht weit weg sei von dem Knoten, von den berühmten Quellen: dem Tod, der Passivität, der Leere, dem Nichts.
Mein Doktor ist in Psychiatrie ebenso beschlagen wie in Endokrinologie. Mit seinem Pillenschraubenschlüssel spielt er in meinem Kopf, in meinem Kühler herum. Er reinigt die Zündkerzen meiner Schilddrüse. Er sagt mir, dass die Pumpe meines Kühlers nicht mehr absauge, dass er sie ausmontieren müsse. Er macht sich lustig über mich. Ich mache mich lustig über ihn. Wir bringen uns zum Lachen. Seitdem er mich wieder zusammenflickt, erscheint mir das Leben zwar nicht interessanter, aber es erscheint mir weniger unmöglich. Wir reden über Verbrennungsmotoren. To be or not to be. Ein weiteres Mal, ohne daran zu glauben, einfach so, für die großen Füße der Sache, habe ich mich für das Leben entschieden. Ich verspreche mir etwas davon.«

– Réjean Ducharme, Von Verschlungenen verschlungen (L’avalée des avalés)