Verweile

Der Weg: ein Streifen Erde, den man zu Fuß begeht. Die Straße unterscheidet sich vom Weg nicht nur dadurch, daß man sie mit dem Auto befährt, sondern auch dadurch, daß sie nur eine Linie ist, die zwei Punkte miteinander verbindet. Die Straße an sich hat keinen Sinn; einen Sinn bekommt sie nur durch die beiden Punkte, die miteinander verbunden werden. Der Weg ist ein Lob des Raumes. Jedes Teilstück hat einen Sinn für sich und lädt zum Verweilen ein. Die Straße ist die triumphale Entwertung des Raums, der dank ihr heute nur noch Hindernis für die Fortbewegung, nur noch Zeitverlust ist.
Noch bevor die Wege aus der Landschaft verschwanden, waren sie aus der menschlichen Seele verschwunden: der Mensch verspürt keine Sehnsucht mehr zu gehen, die eigenen Beine zu bewegen und sich daran zu erfreuen. Nicht einmal sein Leben sieht er mehr als Weg, sondern als Straße: als Linie, die von einem Punkt zum anderen führt, vom Dienstgrad des Hauptmanns zum Dienstgrad des Generals, von der Funktion der Ehefrau zur Funktion der Witwe. Die Zeit zum Leben ist für ihn zu einem bloßen Hindernis geworden, das es durch immer größere Geschwindigkeit zu überwinden gilt.

In der Welt der Wege ist die Schönheit dauerhaft und veränderlich; sie sagt uns bei jedem Schritt: »Verweile!«

– Milan Kundera, Die Unsterblichkeit