Totmacher

»Als er den Garten und das kleine gelbe Häuschen inmitten der Rosensträucher vor sich sah, fühlte er sich plötzlich heiter und leicht, und er freute sich darauf, mit dem Arzt über sich selbst so sprechen zu können, als sei er – Xaver Ykdrasil Zangl – eine fest umrissene Person, deren Leben klare Konturen und eine feste, von Zeit, Beruf und behördlichen Konzessionen bestimmte Struktur aufwies. Seit er die Bibliothek besaß, hatte er nämlich alle Kontakte zu den Bekannten aus früheren Jahren einschlafen lassen, er hatte diese Menschen vergessen, als hätte es sie nie gegeben. Er war einsam geworden. Er hatte sich die Einsamkeit gewünscht, da sie allein seinen Geist frei für das ungebundene Schweifen machte, nach dem er sich oft während jener Jahre gesehnt hatte, die er als Buchhalter in einer kleinen Erzeugungsstätte für Plastikwaren verbracht. Noch heute nannte er diese Erzeugungsstätte, in der acht Arbeiter Eimer, Wannen, Becher und ähnliches aus sackweise angeliefertem Plastikpulver preßten, »die Fabrik«, und er haßte noch immer die Erinnerung daran, weshalb er es tunlichst vermied, an sie zu denken. Sie schien ihm eine schwere Last, die ihn während kostbarer Lebensjahre in die Banalität einer unwesentlichen Wirklichkeit niedergedrückt hatte.
Jetzt in der Freiheit aber mochte es ihm manchmal so scheinen, als gebe es überhaupt keine Realität mehr, auch nicht die höhere, nach der zu streben er sich früher so sehr gewünscht hatte. Dann breitete eine tiefe Leere in ihm aus, und er saß mit glasigem Blick und trägem Puls zwischen seinen Regalen, während die Phantasie ihm allerlei obszöne Vorstellungen vorspiegelte. Gierig verschlang er mit großen Bissen Brot und Blutwurst, bis ihm übel wurde.«

– Manfred von Conta, Der Totmacher