So sterben wir

»Deinen Körper tragen mehr als 200 Knochen, mehr als 600 Muskeln vollführen deine Bewegungen. Dein Herz schlägt in Hast über hundert Mal pro Minute, das Blut mit solchem Druck durch seine Bahnen pumpend, dass der Puls durch deinen kompletten Körper klingt. Deine Lungen atmen Tag für Tag mehr als 10 000 Liter Luft ein, aus denen die Abermillionen deiner Lungenbläschen bis zu 800 Liter Sauerstoff aufnehmen. Dein Gehirn, keine drei Pfund Gewebe, die deine Gedanken, Handlungen, Erinnerungen, Träume hervorrufen, schickt Impulse schneller als Stürme durch deine Nervenstränge. Du bestehst aus Milliarden kritischer Bauteile, manche reparieren sich in vollem Lauf selbst, manche gibt es doppelt, Lungenflügel, Niere, Eileiter oder Hoden – du bist keine simple Maschine, sondern ein auf Ausfallsicherheit ausgelegtes System, komplexer als jedes Kraftwerk. Physiker sagen: ein offenes System hoher Ordnung. Solche Systeme versagen selten auf einen Schlag. Sie versagen schrittweise.
Ab dreißig sinkt die Kraft des Herzens.
Ab vierzig verlieren die Muskeln an Masse.
Ab fünfzig schwindet die Dichte der Knochen. Ab sechzig fehlt im Schnitt ein Drittel der Zähne. Ab siebzig ist das Gehirn im Schädel geschrumpft.
Du nutzt dich ab, bis du dich nicht weiter abnutzen kannst. Dann fällt das System auseinander. Selbst das passiert selten schlagartig. Dem Tod geht es auch langsam schnell genug.«
– Roland Schulz, So sterben wir
[Piper Verlag – EAN 978-3-492-31621-7]