Weibliche Nacktheit ist der Normalfall – männliche hingegen nicht. Warum ist das so?
Elisabeth Raether, ZEITmagazin, 26.07.2012
Welche Frau nicht das Glück hat, mit einem Mann zusammen zu sein, bekommt selten einen Penis zu Gesicht. Penisse lassen sich in der Öffentlichkeit kaum blicken. Sie leben zurückgezogen unter ihresgleichen, zeigen sich, was man so hört, freimütig
nur auf Herrentoiletten und in Umkleidekabinen von Sportvereinen. Eine Frau kann in Biologiebüchern blättern, sie kann sich Pornos anschauen, in denen sie Penisse in ungeahnten Dimensionen sieht. Im Museum kann sie Tausende Jahre alte Geschlechtsteile aus Stein betrachten. Sie kann auf Plakaten für Herrenunterwäsche irgendwo in dem weichen Päckchen zwischen trainierten Schenkeln einen Penis vermuten. Aber Bilder von echten, zeitgenössischen Penissen, aus Fleisch und Blut, nicht pornografisch, nicht abstrahiert, nicht medizinisch, solche Bilder sind schwer zu finden.
Es gibt keine Bilder von nackten Männern, auf denen Nacktheit etwas erzählt, ein Ausdruck ist von Intimität, von Verletzlichkeit oder von Schönheit. Männer dürfen heute Kinder erziehen, eine Lieblingsfarbe haben und öffentlich weinen. Es gibt für sie Bio-Intimwaschlotion. Junge Männer tragen die obersten Hemdknöpfe geöffnet, sie zeigen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale, Bart und Brusthaare, und in hochgekrempelten Hosen ihre nackten Fesseln. Es gibt Männer, die das Urteil des Landgerichts Köln begrüßen, das die Beschneidung kleiner Jungen als Körperverletzung einstuft. Sie meinen, man solle seine Vorhaut, eine Körperregion mit 73 Meter Nervenfasern und 20.000 Nervenendungen, nicht dem kulturellen Überbau opfern müssen. All das deutet darauf hin, dass der Mann von heute einen entspannten, unideologischen Umgang mit seinem Geschlechtsteil pflegt. Doch zu sehen bekommen wir den Penis nicht.
Warum ist das so? Warum spielen Nacktbilder von Männern keine Rolle? Kann männliche Nacktheit im Gegensatz zur weiblichen nichts erzählen? Können wir darauf verzichten, oder entgeht uns, Männern wie Frauen, etwas?
Frauen, scheint es, muss man ja nicht lange bitten: Sie ziehen sich aus, sobald sich ihnen eine Gelegenheit bietet.
Ein Anruf genügt, von der RTL-2- Frauentausch- Redaktion oder vom örtlichen Fotoladen, der sein Schaufenster dekorieren will, schon zeigen Frauen alles, was sie haben. In Galerien, in Magazinen, auf Blogs: Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Models, Sportlerinnen, Moderatorinnen, Fotografinnen, ob jung oder alt, dumm oder klug, hübsch oder nicht so hübsch, alle zeigen sich nackt. Bevor der Fotoapparat erfunden wurde, ließen Frauen sich nackt in Öl oder Wasserfarbe malen. Die Guerilla Girls, eine New Yorker Feministinnengruppe, die seit den achtziger Jahren in Gorillakostümen auftritt, zählte im Metropolitan Museum of Modern Art nach: 83 Prozent der Nackten sind Frauen (und nur 3 Prozent der Künstler). Das erste Kulturgut, das Menschen fertigten – der erste Gegenstand, der keinem Nutzen dienen musste, sondern unterhaltend, interessant und dekorativ war –, entstand 25.000 Jahre vor Christus und stellt eine nackte Frau dar: die Venus von Willendorf, eine kleine Kalksteinskulptur, dick und ohne Gesicht, dafür mit kunstfertig geschnitzten Geschlechtsmerkmalen, heute zu bewundern im Naturhistorischen Museum in Wien.
Spätestens seit der sexuellen Revolution sind Fotos von weiblicher Nacktheit und vor allem weiblicher Halbnacktheit, oben ohne, unten etwas Knappes, alltäglich. Die Normalität in der Bilderwelt sieht so aus: Frauen zeigen ihre Brüste, Männer
zeigen nichts. Die weibliche Brust signalisiert eindeutig etwas Erotisches, provoziert aber niemanden. Der Spiegel zeigt zu neuen Erkenntnissen zum menschlichen Erbgut eine tanzende nackte Frau. Die ZEIT bebildert einen Artikel zum Thema Kindererziehung mit einer Nackten. Kein Medium, das sich nicht freute über die ukrainische Bewegung Femen, bestehend aus gut aussehenden Frauen, die zum Zeichen des politischen Protests ihre Brüste zeigen. Brüste sind für die Bühne geboren. Von Männern aufrichtig geliebt und verehrt, sind sie Geschlechtsmerkmale und erogene Zonen, doch sie sind nur sekundäre Geschlechtsmerkmale. Sie steigern die Attraktivität und dienen nicht direkt der Fortpflanzung. Zu dieser ebenso wirksamen wie beiläufigen weiblichen Halbnacktheit gibt es kein männliches Äquivalent.
Taucht doch einmal ein Penis auf, kann er sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seines Publikums sicher sein. Das Bild von einem Penis sorgt immer für Aufregung. Weibliche Nacktheit ist banal, männliche etwas Besonderes. Die primären Geschlechtsmerkmale der Frau gelten als so uninteressant, dass ständig verwechselt wird, wie sie eigentlich heißen: Vulva oder Vagina? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sagt in ihrer Broschüre zur kindlichen Sexualaufklärung der Einfachheit halber »Schlitz«. Ein Penis aber ist nicht unsichtbar.
Rechtlich wäre beispielsweise für Magazine nichts dabei, ein paar mehr Penisse zu zeigen. Pornografie ist generell indiziert und darf nur an Orten angeboten werden, die Kindern und Jugendlichen nicht zugänglich sind. Die Darstellung eines Penis ist allerdings nicht per se pornografisch, problematisch wird es erst bei Erektionen ab einem Neigungswinkel von 45 Grad. Männliche und weibliche Nacktheit sind kein Porno, wenn es bei den Bildern nicht nur um den sexuellen Reiz geht, sondern auch
»emotionale und individuelle Begleitumstände« gewürdigt werden, wie es in einem wegweisenden Urteil des Berliner Kammergerichts von 2008 heißt. Neben dem Recht gibt es aber noch das, was man sexualethische Vorstellungen nennt, ein komplexes Gebilde aus Kultur, Tradition und Psychologie. Und diesen Vorstellungen zufolge ist heute ein splitternackter Mann schockierender als eine splitternackte Frau.
Das Modehaus Yves Saint Laurent zeigte vor ein paar Jahren einen nackten Mann samt Penis in einer Parfümwerbung. Ein schönes Bild, das ein Zitat des Fotos war, das Jeanloup Sieff 1971 vom jungen, zu Depressionen neigenden Yves Saint Laurent gemacht hatte. Die Anzeige war aber als Schocker für ein paar Nischenzeitschriften gedacht. Neulich war in Steve McQueens Film Shame der Penis des Hauptdarstellers Michael Fassbender in einigen Einstellungen deutlich zu sehen. Der Film handelt von einem Mann, der an Sexsucht leidet. Man sieht ihn morgens nackt durch die Wohnung gehen, während er den Anrufbeantworter abhört und sich Frühstücksflocken in eine Schale schüttet. Es sind keine aufdringlichen Bilder, es sind noch nicht einmal Sexszenen. Trotzdem wurde über den Auftritt des Fassbender-Penis viel geschrieben. Die Szenen waren Aufhänger für mehrere Artikel über Fassbenders großen Schauspielermut (inklusive aller naheliegenden Wortspiele). Dass Carey Mulligan, 27-jährige britische Darstellerin aus dem Charakterfach, in demselben Film in einer langen Einstellung von oben bis unten nackt dasteht, wird in diesen Artikeln gar nicht erst erwähnt. Die Sache ist die, dass viele nicht unbedingt Bilder von nackten Männern sehen wollen. Bei den meisten Frauen herrscht höfliches Desinteresse vor, was Penisse betrifft. Zumindest was fremde Penisse betrifft. Ein Penis wird, etwas überspitzt gesagt, für eine Frau erst nach einem persönlichen Kennenlernen interessant.
Bei den meisten Frauen herrscht höfliches Desinteresse vor. In Frauenzeitschriften, die die Bedürfnisse ihrer Leserinnen kennen und erfüllen, sieht man keine Penisse. Die Cosmopolitan ist eins der führenden Frauenmagazine und das einzige, das beim Thema Sex kein Blatt vor den Mund nimmt. Einen Penis sucht man in der Zeitschrift vergeblich. »Es entspricht nicht unserer Ästhetik«, sagt Chefredakteurin Carolin Schuhler. Eine kürzlich erschienene Geschichte »über seinen wichtigsten Körperteil« – »Ziehen, drücken oder rubbeln ist erlaubt« – wurde mit einem nackten Mann bebildert, der sich einen Fußball vor den Penis hält. Nichts zu sehen. »Ein schlaffer Penis ist nicht besonders aufregend, und ein erigierter Penis wäre bei uns zu krass«, sagt Schuhler. Es ist das Dilemma des modernen Mannes: Zeigt er sich weich, wird er als Verlierer beschimpft. Zeigt er sich hart, bekommen alle Angst. Was Frauen zum Träumen bringt, sagt Schuhler, sind sowieso eher die Augen, die Schultern, nicht so sehr der Anblick eines Penis. Aber was kann eine schöne Schulter im Bett ausrichten? Ist die weibliche Sexualität immer noch so passiv, nach Jahrhunderten der Passivität, dass Frauen sich immer noch nicht für männliche Körper interessieren? Haben Frauen immer noch ein Problem mit dem Penis? Ralf Bönt, Autor des im Frühjahr erschienenen Buchs Das entehrte Geschlecht, sagt, Frauen kennten sich zu wenig mit der männlichen Anatomie aus. So wie Männer in den siebziger Jahren lernen mussten, was eine Klitoris ist, müssten Frauen sich heute mit dem Penis auseinandersetzen. »Es gibt Frauen, die so tun, als ginge der Körper ihres Liebhabers sie nichts an«, sagt er. Der Penis: für Frauen ein Wesen von einem anderen Stern.
Homosexuelle Männer haben zum Penis differenziertere Ansichten als Frauen. Schwule waren es, die den Penis in die Motivgeschichte der Kunst aufnahmen, wo er lange gefehlt hatte. Robert Mapplethorpe fotografierte große Schwänze, die Männern
aus der Hose hingen, was erstaunlich elegant aussah und heute zur homosexuellen Ikonografie gehört. Herb Ritts und Bruce Weber machten Modefotografie aus dem männlichen (Halb-)Akt, als Homosexuelle in der Gesellschaft Akzeptanz fanden.
Wolfgang Tillmans, Chronist der schwulen Subkultur der neunziger Jahre, fotografierte ein Stillleben mit Penis und Airline-Frühstück (AA Breakfast, 1995). Heute noch gelten Bilder von nackten Männern als irgendwie schwul. Der Maler Lucian Freud, der heterosexuell war und in seinem Leben viele Penisse malte, hat gesagt, die Männer, die ihm nackt Modell gesessen hätten, seien alle schwul gewesen. Die Homosexuellen, und nicht die Frauen, waren es, die den Penis zum Fetisch machten, zu einem Objekt der Begierde. Es gab in den USA mal eine Zeitschrift für schwule Männer, die Foreskin Quarterly hieß. Darin ging es, wie der Name sagt, um die Vorhaut. Eine andere Publikation hieß Inches. Einer gängigen Meinung nach sind Männerkörper weniger schön als Frauenkörper, ob nackt oder bekleidet. Ein Mann versteckt nicht nur seinen Penis, er zeigt auch seine nackten Füße nicht, seine Waden, seine Schultern, seine Schlüsselbeine. Er verschönert sich nicht, trägt keinen Nagellack und keine Spangen im Haar. Die Mode lässt sich viel einfallen, um den weiblichen Körper zu betonen. Es gibt kurze Röcke, Ausschnitte, Korsagen, Enganliegendes. Es gibt eine vielfältige BH-Kultur. Auch Frauen, die sich öffentlich nie ausziehen würden, finden nichts dabei, mit ihrer Kleidung ihre Brüste, ihre Beine oder ihren Hintern zur Geltung zu bringen. Den männlichen Körper will die Mode verstecken. Männer tragen Anzughosen, darüber ein Jackett, unförmige Jeans oder weit sitzende Cordhosen. Es gab mal die Schamkapsel, einen der ritterlichen Rüstung entlehnten Genitalschutz, der im 16. Jahrhundert aus modischen Gründen zum Beispiel von Heinrich VIII. getragen wurde. Es gab die mittelalterlichen Beinlinge, die wenig der Fantasie überließen und die Schenkel betonten. Aber seit dem Ende des Absolutismus führt der Mann eine produktive Existenz. In der bürgerlichen Gesellschaft delegiert er Schmuck, Sinnlichkeit und Körperlichkeit an die Frau. Die Männer des Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll machten es anders. Ihre Jeans waren so eng, dass der Penis nicht zu übersehen war. »Die Sechziger waren eine gute Zeit für Penisse«, schreibt Maggie Paley in ihrem Buch Unter dem Feigenblatt – Das Buch des Penis. Es war eine Zeit, in der heterosexuelle Normen infrage gestellt wurden. Auf dem Cover des Rolling-Stones-Albums Sticky Fingers, gestaltet von Andy Warhol, ist eine Jeans mit Beule zu sehen. Dass nackte Frauen schöner als nackte Männer sind, ist ein Gemeinplatz, den man hinterfragen könnte (für den Anfang zum Beispiel Brad Pitt + Playgirl + 1997 googeln). Die Theorie scheint Männern gegenüber etwas ungerecht.
Andererseits: Noch besser, als schön zu sein, ist es natürlich, gar nicht erst schön sein zu müssen. Hässlichkeit schadet Frauen noch mehr als Männern. Es gibt legendär hässliche Männer, die es weit gebracht haben. Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters. Schönsein ist nie eine gesicherte Position. Viele schöne Frauen, Marilyn Monroe, Romy Schneider, Whitney Houston, Lady Di, waren unglücklich. Ein Mann begehrt. Er wird nicht begehrt. Er gibt sich nicht den Blicken preis.
Der Kunsttheoretiker John Berger schrieb: »Männer handeln. Frauen treten in Erscheinung. Männer sehen Frauen an. Frauen sehen sich, wie sie angesehen werden.« Pierre-Auguste Renoir hat gesagt: »Ich male mit meinem Schwanz.« Selber nackt sein ist etwas anderes. Wer stets bekleidet ist, macht sich nicht angreifbar und Vergleiche unmöglich. Es ist der Grund, weshalb viele Kulturen auf einer jungfräulichen Braut bestehen, und es mag ein Grund für das Bilderverbot sein. Geht es um Macht? Hält der Mann sich deshalb bedeckt? Sind für eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft nackte Männer so wichtig wie weibliche Führungskräfte? Müssen wir über eine Männerquote bei Nacktbildern nachdenken?
Andere Gesellschaften kannten unsere Zurückhaltung nicht, was das männliche Geschlecht betrifft. Zahlreich sind die Darstellungen von Penissen im antiken Griechenland, im Römischen Reich, in der hinduistischen Kunst, in animistischen Ritualen Afrikas. Es gibt eine Freske im Haus der Vettier in Pompeji, auf dem der Gott Priapos, Beschützer der Bienen, Fische und Früchte, mit einem einer Briefwaage ähnlichen Gerät seinen Penis wiegt. Noch heute finden in Japan Penisprozessionen statt, eine Tradition aus der Edo-Zeit, bei denen rosa Schaumstoffpenisse aus einer Menge Japaner und kichernder Touristen ragen. So viele ‚Penisbilder gab es, dass sogar ein Wort dafür entstand: Phallus. Das Bild des idealtypischen Penis. Der Phallus ist im Gegensatz zum Penis nie schlaff, er ist Symbol für Fruchtbarkeit und Kraft. Er steht wie eine Eins. Noch heute sind wir von Phallussymbolen umgeben – Obelisken, Hochhäusern, Krawatten, Gangschaltungen.
Der Autor David M. Friedman erzählt in seiner Kulturgeschichte des Penis, A Mind of Its Own, vom Verhältnis des Mannes zu seinem Geschlechtsteil im Wandel der Zeiten. Er sagt, dass das 20. Jahrhundert auch für den Penis ein bewegtes war. In der ersten Hälfte war er dank Sigmund Freud Gesprächsthema Nummer eins. Dann kamen die Feministinnen, und der Penis war, wie heute ein Muslim, dem Generalverdacht ausgesetzt, dem friedlichen Zusammenleben schaden zu wollen.
Es wäre der richtige Zeitpunkt, die Hosen herunterzulassen. Das prägende Ereignis für die heutige Penis-Generation, schreibt Friedman, war eine Urologenkonferenz in Las Vegas im Jahr 1983. Ein Brite namens Giles Brindley bewies am eigenen Leib, dass seine Entdeckung funktionierte: Er behauptete, ein Mittel gegen Impotenz gefunden zu haben. Er hatte sich kurz zuvor Phenoxybenzamin in den Penis gespritzt, ein starkes Muskelentspannungsmittel, und präsentierte vor Tausenden Urologen, hinter dem Rednerpult hervorgetreten, mit heruntergelassener Hose seine Erektion. Er stieg von der Bühne herunter, seine Kollegen setzten ihre Brillen auf und betrachteten das Wunder aus der Nähe. Brindley hatte herausgefunden, dass die Ursache für erektile Dysfunktion nicht ist, dass zu wenig Blut in den Penis fließt, sondern dass es dort nicht bleiben kann, weil das Bindegewebe nicht entspannt genug ist. Es war der Durchbruch für die moderne Behandlung von Erektionsstörungen, die als unlösbares medizinisches Problem galten. 1998 brachte das Pharmaunternehmen Pfizer Viagra auf den Markt, dessen Wirkstoff Sildenafil eine Entspannung in den glatten Muskelzellen des Penis herbeiführt, sodass der Schwellkörper sich mit Blut füllen kann. Wenige Männer interessieren sich seither noch besonders für das Rätsel der Erektion beziehungsweise für ihr rätselhaftes Ausbleiben.
Penthouse-Gründer Bob Guccione ließ sich damals zur Aussage hinreißen, dass dank Viagra die männliche Libido den Zwängen des Feminismus entkommen sei. Gay Talese, der amerikanische Schriftsteller, dessen wichtigstes literarisches Thema zum Ärgernis seiner Frau immer sein eigenes ausschweifendes Liebesleben gewesen war, sagte noch, der Penis sei doch ein »lyrisches Ding«, »das ehrlichste Organ des Mannes«, »es ist entweder oben oder unten, und da kann man nicht lügen«. Tatsächlich war es mit der Lyrik erst mal vorbei. Kurz nach Viagra kamen Cialis und Levitra auf den Markt. Das Organ hatte seine geheimnisvolle Aura eingebüßt, aus dem Phallus war ein Penis geworden. Er ist heute, schreibt David M. Friedman, »ein Organ, über das die Medizin vollends aufgeklärt ist, ohne psychische Bedeutung, ohne Geheimnis, nur ein kleines Geflecht aus Blutgefäßen, Neurotransmittern und Bindegewebe«. Westliche Architekten leben heute ihre phallischen Träume nur noch in China und den arabischen Ländern aus, wo derzeit die höchsten Gebäude der Welt stehen – der Westen ist aus diesem Wettbewerb irgendwann ausgestiegen.
Bei uns kommt der Phallus nur noch in Pornos vor. Da ist der Penis kein urologischer Problemfall, sondern groß, entschlossen und unermüdlich. Frauen machen sich manchmal Sorgen, dass Männer ein verqueres Frauenbild bekommen, weil Pornografie mit dem Internet heute so zugänglich ist wie nie zuvor. Tatsächlich bekommen Männer durch Pornos ein verqueres Bild von ihrem eigenen Penis. Pornodarsteller, sagt Frank Sommer, Professor für Männermedizin an der Hamburger Uni-Klinik und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit, werden aus den fünf Prozent auf der Gaußschen Verteilungskurve rekrutiert, die einen überdimensional großen Penis haben.
Das vergessen die anderen 95 Prozent oft. Penisverlängerungen sind kein Witz in der Junkmail-Inbox. Es gibt sie wirklich. Bei Sommer melden sich jedes Jahr mehrere Hundert Männer, die gern einen größeren Penis hätten. Den medizinischen Befund »Mikropenis« – weniger als 7,5 Zentimeter im erigierten beziehungsweise maximal gestretchten Zustand – stellt Sommer nur bei 15 bis 20 von ihnen fest. Dann operiert er. Unterhalb des Schambeins wird ein Schnitt gesetzt, das Band, an dem der Penis im Becken aufgehängt ist, wird gekappt. Ein Drittel des Penis befindet sich im
Inneren des Körpers, ein paar Zentimeter davon werden hervorgeholt. Laut Sommer ist jedoch das einfachste Mittel, schmerzfrei etwas Länge zu gewinnen: abnehmen. Eine Fettschicht am Bauch nimmt dem Penis viel von seiner eigentlichen Größe.
Noch lassen Männer nur den Urologen nachmessen. Aber es wäre in der Geschichte endlich der richtige Zeitpunkt, die Hosen herunterzulassen. Oder um eine Formulierung des Zeitgeists zu verwenden: Der Penis sollte jetzt den Dialog suchen. Es gäbe für Männer und Frauen einiges zu entdecken. Denn es ist eine Form der
Freiheit, wenn ein Penis nur ein Penis ist, kein willkürlicher Herrscher, der sich seinem Volk selten zeigt, sondern ein Organ, wenn auch ein attraktives, interessantes Organ. Wer sich den Blicken hingibt, ist in einer prekären Position. Aber es liegt eine Macht darin, die nichts mit der Macht zu tun hat, die Männer lange ausgeübt haben.