Die Kunst des Hungers
Er will überleben, aber nur zu seinen Bedingungen: Er sucht ein Überleben, das ihn vor das Angesicht des Todes führen soll.Er fastet. Freilich nicht so, wie ein Christ das tun würde. Er verzichtet nicht auf das irdische Leben, um das himmlische vorwegzunehmen; er weigert sich einfach, das Leben zu leben, das ihm gegeben wurde. Und je weiter er sein Fasten treibt, desto stärker drängt sich der Tod in sein Leben. Er nähert sich dem Tod, kriecht an den Rand des Abgrunds, und dort angekommen, klammert er sich daran fest; er kann weder vor noch zurück. Der Hunger, der die Leere aufreißt, hat nicht die Macht, sie zu verschließen. Ein kurzer Augenblick Pascal’schen Schreckens ist zu einem dauerhaften Zustand geworden.Sein Fasten birgt demnach einen Widerspruch. Darin zu verharren, würde in den Tod führen, und der Tod würde das Ende des Fastens bedeuten. Folglich muss er, wenn auch nur einen Schritt vom Tod entfernt, am Leben bleiben. Um sich die ständige Möglichkeit des Endes zu bewahren, widersteht er der Versuchung, seinem Leben ein Ende zu machen. Weil sein Fasten weder ein Ziel postuliert noch irgendeine Erlösungsverheißung bietet, muss der inhärente Widerspruch ungelöst bleiben. Als solches ist es ein Bild der Verzweiflung, erzeugt von der gleichen selbst verzehrenden Leidenschaft wie die Krankheit zum Tode. Die Seele strebt in ihrer Verzweiflung danach, sich selbst zu verschlingen, und da sie das nicht kann – und zwar genau deshalb, weil sie verzweifelt ist –, versinkt sie noch tiefer in Verzweiflung.
– Knut Hamsun, Hunger